Der 28. Dezember, die dritte Rauhnacht
Schon bald stehen die sagenumwobenen Rauhnächte kurz bevor. Jene dunklen 12 Nächte, die eine mystische Übergangszeit zwischen den Jahren bilden. Diese beginnen dieses Jahr am 25. Dezember und dauern bis zum 6. Januar 2025, der Tag der heiligen drei Könige. Meine Grosseltern sagten früher, dass in dieser Zeit die Geister Ausgang hatten. Die Rauhnächte galten als die geheimnisvollste Zeit des Jahres. Kein Wunder, dass sich daraus eine Menge Rituale, Bräuche und Geschichten entwickelten.
Geschichte unserer alten Nachbarin, Frau Anna Huber.
Es war die dritte Rauhnacht, der 28. Dezember als die alte Anna Huber das erste Mal das sanfte Läuten hörte. Ein helles, kristallklares Klingen, als würde jemand mit einem Silberlöffel an ein Glas tippen. Draussen lag der Hof still unter einer Decke aus glitzerndem Schnee, und im Haus knisterte nur das Ofenfeuer.
Frau Huber wickelte sich in ihren Wollschal und öffnete die Haustür. Die Luft war kalt und klar wie Bergquellwasser. Das Klingen wurde lauter und dann sah sie sie: Eine Frau, ganz in Weiss, ihr Mantel schimmerte wie frisch gefallener Pulverschnee. Sie stand am alten Birnbaum, der in den letzten Jahren fast vertrocknet war.
„Fürchte dich nicht“, sagte die Frau, und ihre Stimme klang wie Wind, der durch Eiszapfen fährt, weich und hell. „Ich komme, um zu sammeln, was du nicht mehr tragen musst.“ Frau Huber trat vorsichtig näher. „Was meinst du?“
Die Weisse Frau lächelte milde und hielt eine kleine Kristallschale hin. „In den Rauhnächten lösen sich alte Sorgen. Flüstere hinein, was gehen darf.“
Die nun verunsicherte alte Frau zögerte. Alles was grad gechah wirke für sie wie nicht wahrhaftig. Und doch … In ihrem Herzen rumorte schon lange etwas Unausgesprochenes. Sie schloss die Augen und flüsterte die Lasten des Jahres in die Schale: die Angst um ihre kranke Tochter, die Schuldgefühle, die Müdigkeit, die sie nicht abschütteln konnte.
Als sie die Augen wieder öffnete, schimmerte die Schale dunkel – gefüllt mit etwas, das aussah wie Rauch.
Die Weisse Frau nickte und hob die Schale zum Himmel. Ein Windstoss fuhr über den Hof, ergriff den dunklen Rauch und fegte ihn hinweg, als wäre er nie dagewesen.
„In der letzten Rauhnacht werde ich wiederkommen“, sagte sie. „Dann bringe ich dir etwas Neues.“
Und tatsächlich: In der zwölften Nacht hörte Frau Huber erneut das Klingen. Diesmal brachte die weisse Frau einen kleinen, hellen Kristall mit – warm wie ein Herzschlag.
„Mut“, sagte sie. „Für das kommende Jahr.“
Es war ein Geschenk, das unsere Nachbarin nie wieder verlor. Jeden Weihnachtsabend, wenn Anna Huber bei meinen Grosseltern zum heissen Tee in der grossen Küche sass, erzählte sie andächtig, mit Tränen in den Augen diese Geschichte. Ich sehe immer noch vor mir, wie dabei meine Grossmutter mit dem Gebetskranz in den Händen leise betete.
Autor
Peter Marugg